Start
>
Foren
>
Arbeits- und Umweltmedizin

Arbeitsplatz Sitzplatz

von GoF , 31.01.02 05:08
Liebe Cyberdoktoren,
ich habe seit mehreren Jahren Probleme mit meinem Rücken (Bandscheibenvorfall L5/L6 u. Bandscheibenverschiebung L4/L5 1999) und diesbezüglich auch ganz schöne Probleme mit meinem Arbeitgeber. Ich fahre beruflich Triebwagen im Stadt-/Nahverkehr, die das Unternehmen in den letzten Jahren neu angeschafft hat. In diesen Fahrzeugen wurden Stühle für uns Triebfahrzeugführer eingebaut, auf denen ich nach ca. 30 - 60 Minunten Sitzdauer Rückenschmerzen bekomme, teilweise nach ca. 2 Stunden gar nicht mehr sitzen kann und im Stehen fahren muß. Meines Empfindens nach entsprechen diese Stühle nicht den ergonomischen Anforderungen, um auf ihnen orthopädisch rückengerecht sitzen zu können (Sitzfläche ist nicht nach vorn neigbar, Rückenlehne hat keinerlei Stützfunktion im LWS-Bereich, Bezüge sind rutschig). Dies habe ich meinem Arbeitgeber über mehrere Abteilungen und dem Betriebsrat und dem Betriebsarzt mehrfach mitgeilt und um Änderung ersucht. Nun (nach 2 Jahren regelmäßiger Beschwerden) hat mein AG den Stuhl untersuchen lassen und hat festgestellt, daß der Stuhl der DIN-Norm entspricht. Daher sieht er keinen Änderungsbedarf. Ärgerlich daran ist, daß viele meiner Kollegen im Gespräch unter 4 Augen ebenfalls meiner Meinung sind, aber sich nicht an den AG wenden wollen (wohl aus Angst vor Repressionen). Nun meine Fragen:
1. Was kann ich weiteres tun, um meinem Arbeitgeber klarzumachen, daß dieser Stuhl ein "Rückenkiller" ist und er bessere Stühle einbauen oder nachbessern lassen sollte?
2. Verstößt mein AG mit seinem Desinteresse bzw. seiner Ignoranz diesbezüglich nicht gegen seine Pflicht zur Erhaltung der Gesundheit seiner Angestellten und kann man dagegen nicht sogar rechtlich vorgehen?
3. Was genau besagt diese von meinem AG erwähnte DIN-Norm zum Thema Stühle in Schienenfahrzeugen?
4. Muß ich mich wirklich damit abfinden, daß ich mich im Alter von erst 34 Jahren schon von meinem Beruf verabschieden muß, nur weil mein AG unter akuter Sparwut leidet?
5. Die Berufsgenossenschaft Bahnen weigert sich, Rücken- oder Bandscheibenprobleme als Berufserkrankung anzuerkennen, da wir als Führer von Schienenfahrzeugen angeblich nicht diesen Belastungen ausgesetzt sind, wie Führer von Straßenfahrzeugen. Dazu frage ich mich nur, warum man uns unter diese schädlichen Stühle dicke Luftfedern gesetzt hat, wenn doch angeblich gar keine derartigen Belastungen aufkommen?! Was kann man diesbezüglich noch tun, immerhin spielt das doch eine nicht unerheblichen Rolle in einiger Zeit später?

Danke schon mal für Ihre tolle Arbeit hier!

Antwort schreiben

Re: Arbeitsplatz Sitzplatz

von Cyberdoktor , 01.02.02 06:28
Lieber Cyberdoktor-Nutzer,

hier einige Auszüge aus Richtlinien, Verordnungen und Durchführungsanweisungen zur Gestaltung von Fahrersitzen:

Der Fahrersitz einer Maschine muss dem Fahrer Halt bieten und nach ergonomischen Grundsätzen konstruiert sein. Der Sitz ist so auszulegen, dass die Schwingungen, die auf den Fahrer übertragen werden, auf ein vertretbares Mindestmaß reduziert werden....

Bei der konstruktiven Auslegung von gefederten und gedämpften Fahrersitzen zur Minderung der auf den Fahrzeugen vorkommenden Schwingungen sind im wesentlichen die folgenden drei Teilbereiche zu berücksichtigen:
- Kinematik des Sitzsystems
- Federweg, Federkennung und Eigenfrequenz
- Schwingungsdämpfung und Reibung des Sitzsystems

Die Sitzfederung soll auf unterschiedliche Fahrergewichte zwischen 600 und 1300 N einstellbar sein. Als statische Einfederung hat sich 40 % des gesamten Federweges bewährt.
Die Eigenfrequenz des Sitzes mit Fahrer soll kleiner als die Hälfte der Haupterregungsfrequenz des Fahrzeuges sein. Niedrige Eigenfrequenz ist mit niedriger Sitz-Federkonstanten verbunden. Da hierbei das manuelle Einstellen auf die gewünschte statische Einfederung erschwert wird, ist eine automatische Gewichtseinstellung erwünscht.

Damit Federung und Dämpfung optimal und definiert ausgelegt werden können, sind die Reibungskräfte in Lagern und Führungen möglichst gering zu halten.
Die Sitz-Federwege sollten weitgehend den Schwingwegen des Fahrzeuges entsprechen, jedoch als freie vertikale Federwege 120 mm nicht überschreiten. Die Dämpfung ist auf das Fahrzeug und die Sitzfederung abzustimmen.

Die Unfallverhütungsvorschrift »Fahrzeuge« (VBG 12) der Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen beinhaltet in § 8 folgende Aussage:

„Sitze für Fahrzeugführer, Beifahrer und Mitfahrer müssen so gestaltet und auf das Fahrzeug abgestimmt sein, dass Körperschäden möglichst vermieden werden. Sitze für Fahrzeugführer müssen ausreichend verstellbar sein.“

In der Durchführungsanweisung wird auf die Führerhausrichtlinien verwiesen. In diesen wird u.a. festgehalten:

„Sitze für Fahrzeugführer, Beifahrer und Mitfahrer müssen so gestaltet und auf das Fahrzeug abgestimmt sein, dass Körperschäden möglichst vermieden werden. Sitze für Fahrzeugführer müssen ausreichend verstellbar sein.“

Die Richtlinien für die Gestaltung und Ausrüstung der Führerhäuser von Kraftwagen, Zugmaschinen und Arbeitsmaschinen (Führerhausrichtlinien) gelten im Rahmen der Straßen-Verkehrs-Zulassungs-Ordnung (StVZO) und stellen eine Unterlage für den Sachverständigen dar, auf welche Weise das Ziel einer sicheren Gestaltung der Fahrerplätze erreicht werden kann. Zur Einwirkung von mechanischen Schwingungen und zur Schwingungsminderung durch den Sitz heißt es:

„Der Sitz muss ausreichend gefedert, gepolstert und gedämpft sein« sowie »... die auf den Führer einwirkenden Geräusche und mechanischen Schwingungen im Führerhaus oder Führerraum dürfen das nach dem jeweiligen Stand der Technik (einschließlich der Technik zur Minderung der Geräusche und Schwingungen) unvermeidbare Maß nicht übersteigen.“

Zur Messung und Bewertung von Schwingungsemissionswerten und zur Ermittlung der Schwingungsbelastung an Arbeitsplätzen existieren mannigfaltige nationale DIN-Normen und VDI-Richtlinien ebenso wie europäische EN-Normen und internationale ISO-Standards. Deren Aufzählung würde hier den Rahmen sprengen. Bei Bedarf muss der jeweilige Stand der Normung zu diesem Zeitpunkt berücksichtigt werden.

Wenn Ihr Sitz der geltenden DIN-Norm entspricht, ist davon auszugehen, dass dieser für Ihre Rückenschmerzbeschwerden a.e. nicht verantwortlich – also kein "Rückenkiller" ist. Die Art der vorliegenden DIN-Norm (Nummer) müssten Sie bei Ihrem Arbeitgeber, eleganter bei Ihrer zuständigen Sicherheitsfachkraft/ bzw. beim Sicherheitsingenieur erfragen. Diese/r kann Ihnen erläutern, ob es sich um aktuelle Normen handelt. Meist liegt das Problem vielmehr in der überwiegend sitzenden Arbeitshaltung, die bei nicht ausreichendem Wechsel der Haltung eine Belastung der Bandscheiben bedeutet und zu einer Verkümmerung der Rückenmuskulatur führt. Erstes Gegenmittel wäre ein, häufigerer Haltungswechsel, z.B. Spaziergang in den Pausen und in aller erster Linie ein Ausgleichs-/Aufbautraining der rumpfstabilisierenden Muskulatur.

Dabei kommt es natürlich darauf an, ob ein – ggf. welcher – krankhafter Befund bei Ihnen vorliegt. Was sagt denn Ihr Hausarzt? An der „Sparwut“ Ihres Arbeitgebers wird es wahrscheinlich nicht liegen. Es gibt geforderte ergonomische Standards, die in aller Regel von den Arbeitgebern eingehalten werden, da es ansonsten meist unangenehm wird, wenn die zuständigen Aufsichtspersonen der Berufsgenossenschaft oder Vertreter des staatlichen Amtes für Arbeitsschutz auftauchen.

Menschen die an tiefergreifenden Veränderungen der Wirbelsäule leiden, bedürfen in erster Linie rehabilitativer Maßnahmen. Dazu gehört, dass man versucht den Betroffenen ein Verbleiben im ursprünglichen Beruf zu ermöglichen. In einem solchen Falle würde – falls erforderlich - auch eine Sitzumrüstung erwogen werden.

Die Anerkennung von Bandscheibenerkrankungen der Lendenwirbelsäule als Berufskrankheit (BK) unterliegt bestimmten gesetzlich vereinbarten Voraussetzungen. Eine Anerkennung einer entsprechenden BK bedarf entweder einer über 10 Jahre andauernden Tätigkeit mit Erfordernis des Hebens und Tragens schwerer Lasten oder der dauerhaften Einwirkungen von Vibrationen einer bestimmten Frequenz und Stärke, die sich heute nur noch beim Fahren von Baufahrzeugen finden.

Was können Sie tun? Um einen Untersuchungstermin beim Betriebsarzt bitten (Über Personalstelle) und dort ausführlich zu Ergonomie und Präventionsmaßnahmen beraten lassen, auch eine Beratung bei der zuständigen Sicherheitsfachkraft ist sinnvoll. Ebenso Beratung durch den Hausarzt zu Übungen zur Stabilisierung der Rumpfmuskulatur (z.B. im Fitnessstudio). Ggf. werden solche Übungsangebote auch vom Arbeitgeber unterstützt.

Alles Gute wünscht Ihr
Cyberdoktor-Team

Haben wir Ihnen geholfen? Dann empfehlen Sie uns bitte weiter:
  • twitter
  • facebook
  • facebook


Antwort schreiben

Re: Arbeitsplatz Sitzplatz

von Unbekannt , 11.03.02 10:09
Da man leider keine Mail bekommt, wo ein Passwort drinsteht, muß ich jetzt mal so antworten.

Hallo nochmal!
Zunächst mal meinen herzlichsten Dank für die umfassende Antwort! Ich wollte schon vor einer ganzen Weile meinen Dank verfassen, aber die Geschehnisse hielten mich ab. Ich habe herausgefunden, daß es in der Geschäftsführung unseres Unternehmens eine Arbeitskraft gibt, die sich mit sozialen, physischen und psychichen Problemen befasst (so etwas wie ein Prister, dem man beichten kann und der alles vertraulich behandelt). Dieser Fachkraft habe ich mich über das Problem unterhalten und es wurde ein Ortstermin einberaumt, an dem Vertreter der Hersteller, des Unternehmens, des Betriebsrates, Betriebsärzte und ich teilnehmen nahmen. Alle Beteiligten - bis auf die Vertreter unseres Unternehmens - haben einhellig bestätigt, daß die Stühle tatsächlich nicht so einstellbar sind, daß "jeder" eine rückengerechte Sitzhaltung einnehmen kann und sogar daß die Form der Rückenlehne und die Stellung der Sitzfläche nicht den ergonomischen Anforderungen entsprechen. Die Vertreter unseres Unternehmens haben es als spezielles und persönliches Problem meiner Person angesehen, da ich angeblich der einzige wäre, der sich über dieses Problem beschwert. Ich weiß aber zuverlässig von vielen meiner über 1500 Kollegen, die in etwa das gleiche über diese neuen Stühle denken, nur es sich aus Angst vor Regressionen nicht zu äußern trauen. Wer in Fahrtätigkeit, der nicht plant demnächst damit aufhören zu wollen, möchte schon freiwillig seinem Arbeitgeber gestehen, daß er während der Arbeit Rückenschmerzen bekommt?!
Was kann ich nun noch tun, um meinen Arbeitgeber dazu zu bewegen, endlich das Problem zu beseitigen und an dieser Stelle endlich nicht mehr auf Kosten unserer Gesundheit zu sparen?
Sollte man jetzt vielleicht doch die Berufsgenossenschaft oder das staatliche Amtes für Arbeitsschutz darüber informieren?

Ich danke vorsorglich schon mal vorab für Ihre Mühe!

Herzlichste Grüße

GoF

Antwort schreiben

Re: Arbeitsplatz Sitzplatz

von Cyberdoktor , 13.03.02 04:46
Hallo,

die Verhütung arbeitsplatzbedingter Beschwerden ist ureigenes Anliegen der Arbeitsmedizin. Wie Sie beschreiben wurde bei Ihnen eine Art Arbeitsplatzanalyse/Arbeitsplatzbegehung durchgeführt. Über die dabei gewonnenen Erkenntnisse müsste es ein Protokoll geben. Zu dessen Ergebnis und ggf. weiteren Maßnahmen können Sie sich u.a. von Ihrem Betriebsarzt oder auch von Ihrem Betriebsrat beraten lassen.

Von einer eigeninitiativlichen Benachrichtigung der Berufsgenossenschaft oder des staatlichen Amtes für Arbeitsschutz raten wir zumindest aktuell ab. Denn es handelt sich hierbei um eine Aufsichtsbehörde, die nur unter bestimmtem Bedingungen direkt von Ihnen benachrichtigt werden darf – ansonsten können arbeitsrechtliche Schritte folgen. Besser ist es, Sie lassen sich diesbezüglich ggf. vom Betriebsrat vertreten – die o.a. Beratung vorausgesetzt.

Viel Erfolg wünscht Ihr
Cyberdoktor-Team

P.S. Eigentlich funktioniert die Password-Mail - einfach noch mal versuchen.

Haben wir Ihnen geholfen? Dann empfehlen Sie uns bitte weiter:
  • twitter
  • facebook
  • facebook


Antwort schreiben